Predigt- 21. Oktober 2012
Schlosskirche Wittenberg Wittenberg
Text: 1. Korintherbrief 7:29-31
Übersetzung: Walter O. Schlupp
Liebe Brüder und Schwestern, Liebe Gemeinde,
Der Text für die heutige Homilie passt sehr gut zu dem Ort und den Augenblick, in welchem er behandelt werden soll. Die Verse aus dem 1. Korintherbrief sind für die Reflexion hier und heute in dieser Stadt in ausgezeichneter Weise opportun. In 10 Tagen werden es 495 Jahre her sein, dass Luthers 95 Thesen in die Öffentlichkeit gebracht wurden, und zwar an der Tür dieser Kirche, gerichtet an die Menschen dieser Stadt sowie an die akademische Gemeinschaft. So wird es wenigstens erzählt. Heute wird dem vom damals unbekannten Mönch vorgenommene Schritt symbolische Kraft zugeschrieben. Seitdem wird der 31. Oktober als der Tag angesehen und gefeiert, an dem die Reformation in Gang gesetzt wurde. Damals haben ja die Menschen kaum das Ausmaß und die enormen Folgen dieser Initiative eines jungen Mönches wahrgenommen, die damals an sich nichts Außergewöhnliches darstellte. Kaum 29 Jahre alt war er, als er seine Gedanken über die Situation der Kirche und der Gesellschaft an die Öffentlichkeit brachte.
Und zwar erwähne ich dies, weil bereits diese drei Verse zwei zentrale Themen von Luthers Theologie enthalten: die immer wieder kommende Gegenwart Christi und wie wir in einer Welt leben sollen, in die der Messias tatsächlich kommt. So wie es Paulus formuliert, dient das erste Thema als Rahmen. Er beginnt mit Vers 29 und schließt mit Vers 31: “die angezeigte Zeit (Kairos) ist kurz… das System dieser Welt (bzw. das Wesen dieser Welt, wie Luther schēma tou kosmou in diesem Kontext adäquat übersetzt) ist am Vergehen.” Diese Übersetzung muss erläutert werden. Kairós, die angezeigte Zeit, ist keine gewöhnliche Zeit; es handelt sich nicht um eine Uhrzeit, griechisch chronos. Kairos ist ein nicht genau anzugebender Zeitpunkt, der von Verheißungen erfüllt ist, aber auch Anfechtungen bietet, deren Wirklichkeit nur diejenige Person spüren und beurteilen kann, die gerade die entsprechende Situation erfährt. Es handelt sich nicht um einen Zeitpunkt auf den wir warten, indem wir andauert auf die Uhr gucken; eher ist es eine Zeit der Hoffnung und Anfechtung, wie wenn wir in der Nähe eines Freundes, einer geliebten Person wären, oder auch eines Gegners, eines Feindes. Da erleben wir das Leben in seinem ganzen Glanz – oder auch in seinem ganzen Elend. Da geht es nicht nur um den Anfang oder um das Ende; es geht auch um die matschige Mitte. Die Stadt Corinth war ein klassisches Beispiel dieser matschigen Mitte , in der: Gefahr und Verheißung, Verzweiflung und Hoffnung Hand in Hand gingen. Es geht also um eine Situation, die eine Entscheidung verlangt: an wen sollen wir uns wenden? Eine Entscheidung steht bevor, unmittelbar, sie kommt auf uns zu. Für Paulus war das die Situation der christlichen Gemeinde; die Zeit und der Ort von Christus selbst. Kairos ist eine messianischen Zeit. Kairos ist also die Zeit und der Ort der Verheißung. Doch die Zeit der Verheißung wird immer von Risiken und Gefahren bedroht, Dämonen fechten uns an. Friedrich Hölderlin hat es poetisch folgendermaßen ausgedrückt: “Nah ist, und schwer zu fassen, der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Vielleicht noch schärfer in den Worten Walter Benjamins: ” Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.”
Die messianische Wirklichkeit, die ein Fenster in die andere Welt öffnet, befindet sich immer in der nächsten Nähe bevorstehender Gefahren. Befreiung und Verurteilung sind aneinander angeschmiegt. Doch nach derselben Logik: ist die Gefahr abgewendet, sind die Anfechtungen einmal unter Dach und Fach gebracht, dann scheint die Verheißung am weitesten entfernt zu sein, Hoffnung schwindet, Abrahams Hoffnung gegen Hoffnung ist vorbei. Hoffnung weigert sich dann dem Wagemut, sie ist in die Kategorie des Wartens, der Uhrzeit, des Chronos verwiesen. Hören wir also, was Paulus hier zu verstehen gibt: in dem gleichen Maße wie wir uns sicher sind, Risiken unter Kontrolle sind, verbleicht die Hoffnung. Das sind harte Worte für hoch entwickelte Gesellschaften mit ihrem Wohlfahrtsstaat, gesundheitlicher Vorsorge, medizinischer Betreuung, Rentensystemen, Versicherungen und so fort. Sind die Gefahren doch im Griff – wo bleibt dann die Hoffnung? Benjamin zeigt diesen fundamentalen widerspenstigen Glauben auf, dass sogar die Toten von der Gewalt des Feindes errettet werden, wenn an sie erinnert wird und ihre Opfer nicht der Vergessenheit preisgegeben werden. Aber ist das alles? Wie sieht es mit uns aus, die wir am Leben sind? Wie sieht es mit denen aus, die es sich leisten können, die Gefahren in Schach zu halten, die meisten Risiken im Griff zu behalten und deswegen also ziemlich gut dastehen? Besteht da noch Hoffnung für den letzten Kampf mit dem Feinde? Paulus hat ganz entschieden nicht so gedacht. Im Text für den heutigen Tag spricht er über die Lebenden, auch solche, die, wie er selber, mit einigen Privilegien ausgestattet waren (er war ja römischer Bürger). Er wusste, dass eine Versicherungspolice nicht mit Befreiung identisch war, dass Sicherheit noch kein Heil darstellt. Paulus redet von Auferstehung JETZT, enthalten im Kairos-Ereignis! Doch kommt Auferstehung nicht ohne den Tod. Hoffnung braucht einen dreckigen Boden, um zu wachsen und zu blühen.
Und nun das zweite Thema in der Textpassage. Wenn der Kairos mit seiner flüchtigen messianischen Präsenz den Rahmen dieses Textes bildet, soll doch das Eingerahmte, der Inhalt, das Bild in dem Rahmen nicht verfehlt werden. In diesem kurzen Text, der darüber handelt, wie man in dieser Welt leben soll, deren Wesen am Vergehen ist, wird ein bestimmter Ausdruck fünfmal wiederholt (Luthers Übersetzung tut es nicht, wohl aus stilistischen Gründen). Es handelt sich um das Griechische hōs mē (“wie wenn nicht”). Paulus war ein Meister der Rhetorik. Er wusste mit Wiederholungen (bzw. Pleonasmen) umzugehen, wenn er etwas betonen wollte, ohne in langweilige Redundanzen zu fallen. Was will er nun mit dem hōs mē sagen? Wieso stellt das hōs mē eine Verheißung dar?
Zunächst müssen wir sehen, was Paulus NICHT sagt. Er sagt nicht das, was zwei andere Gruppierungen seinerzeit am Predigen waren. Nennen wir sie Apokalyptiker und Spiritualisten. Für diejenigen mit apokalyptischen Neigungen wäre die Welt eine Mülltonne, das total Vergängliche, die künftige Herrschaft Gottes würde eine neue Wirklichkeit hervorrufen. Also ist alles egal. Ihr Ausblick war: “Lasst uns die Welt ausschlachten”. Also: Je schlimmer desto besser. Der Missbrauch der Welt und ihrer Einrichtungen würde nämlich die künftige Herrschaft Gottes beschleunigen. Diesen Leuten sagt Paulus: Ihr sollt in der Welt leben, sie aber nicht dazu missbrauchen, Gottes Reich nur schneller herbeizuführen!
Paulus meint aber auch die Spiritualisten, besonders die in Korinth, wo sie stark vertreten waren. Im Gegensatz zu den Apokalyptikern, wollten sie mit der Welt und ihren Einrichtungen nichts zu tun haben. Von denen haben sie Vieles aufgegeben: Ehe, Eigentum, Geschäfte mit der Welt; stattdessen haben sie sich damit gebrüstet, dass sie sich darüber freuten, bereits ÜBER der Welt zu stehen, bzw. sie beklagten die armen Seelen, die in den weltlichen Geschäften verfangen waren. Dieser Fraktion sagt der Apostel: Ihr sollt in der Welt leben, und zwar auf verantwortliche Weise, aber nicht so, als wäre sie euer eigener Schatz; ihr sollt euch in der Welt für Gäste halten, die von einem Gastgeber empfangen werden. Sich wie ein Gast benehmen ist auch, was Luther als Übersetzung für diesen Text vorschlägt: „Das ist eine gemeine Lehre für alle Christen, dass sie … sich wie Gäste auf Erden halten; dass nur eine kurze Zeit alles zur Not und nicht zur Lust brauchen.“
Als Gäste sind wir uns in jedem Augenblick darüber bewusst, dass es sich höchstens um eine Unterkunft handelt, die jedoch noch nicht unser Zuhause ist. Für Gäste ist die Unterkunft nicht das Wichtigste; sie ist kein Eigentum, nach welchem wir bestimmt werden beziehungsweise wo wir hingehören. Sie ist auch kein Gefängnis, das uns fesselt und uns die Freiheit nimmt. Das Wichtige ist hier die Hoffnung und die zugrundeliegende Verheissung. Heutzutage könnte der Begriff des Gastseins durch ein anderes Bild wiedergegeben werden: durch das Bild eines Auswanderers. Auswanderer erfahren Verlust, und jeder Verlust birgt den Stachel des Todes in sich. Ein Zuhause wird zurückgelassen, wir vermissen unsere Lieben. Wo sind die Freunde? Das Recht, die örtlichen Bräuche sind uns nicht wohlgesinnt. Bei jeder Gelegenheit, in der wir einem Kairos begegnen, droht uns die Ausbürgerung, Deportation, vielleicht sogar ein Aufenthalt in der Strafanstalt.
Auswanderung bedeutet nicht nur die Überschreitung geopolitischer Grenzen. Wir alle erfahren früher oder später eine “Wanderung” irgendwelcher Art: Von einem gesunden Leben in eine langwierige Krankheit; psychosomatische Störungen treten auf; dabei haben wir mit einer Art Wanderung, Migration zu tun, besonders wenn wir deswegen ins Krankenhaus müssen, vielleicht in sonst eine Anstalt. Um eine Wanderung handelt es sich auch, wenn wir eine liebe Person verlieren, wenn wir mit ihrem Leben engstens verflochten waren. Der Verlust einer beruflichen Stellung, eine plötzliche Wende in der Karriere. Migration kann man vielfach umschreiben. Der gemeinsame Nenner ist der Verlust eines vertrauten Umfeldes, das uns wiedererkennt und anerkennt. Eine neue Umgebung, eine andere Nische muss ausgemeißelt werden. Doch für den Einwanderer wird es noch kein Zuhause sein, da gehört er nicht hin. Warum ist das so? Weil es um das Leben geht, unbedingt! Ums Leben! In dieser Unbedingtheit, durch den dreckigen Boden, auf DEN Tränen gefallen sind, der unser Lachen aufgenommen hat, in dem Boden aus welchem Furcht und Angst gewachsen sind, auf welchem gemeinsame Freude gefeiert wurde, da kommt die hartnäckige Hoffnung hervor, da wächst sie, da gedeiht sie, da blüht sie. Leben schimmert im Schatten der Gefahr. Da geschehen Auferstehungen sehr wohl !
Rudolf Bultmann hat das hōs mē als Teilnahme bei innerer Distanz verstanden. Dieser große Kenner des Neuen Testaments stand den Spiritualisten ein kleines Bisschen zu nahe, für die, Befreiung eine innere geistige Verfassung bedeutete. “Wie wenn nicht” sollte hier als lebendige, äußerlich sichtbare Teilnahme verstanden sein: Wir wohnen hier als Einwanderer, als Fremdlinge, die nur so viel haben, um über die Runden zu kommen, “wie wenn nicht.” Wenn wir auf diese Weise leben, werden wir einen Riss sehen, eine schmale Spalte in den Pforten eines schwindenden Kairos. Durch diese Spalte blinkt ein Hoffnungsschimmer. Durch diesen Schlitz könnte der Messias, der Christus, jederzeit hervorkommen, aber auch jetzt mitten in dieser Welt, deren Systeme und Gewalten immer am Schwinden sind und für die, Hoffnung ein unverständliches Wort ist. Dies gilt jedoch nicht für den Stamm Jesu, der “die Gabe [hat, in der Asche] den Funken der Hoffnung anzufachen.“